Friedens-Furzideen, Journalisten auf Abwegen und eine hessische Kommunalwahl als Glückspiel: Warum doch sein kann, was nicht sein darf.
Hessen. „Das darf doch wohl alles nicht wahr sein“, lautete der Stoßseufzer eines Kollegen, der mindestens einmal am Tag ertönte und zu dem durchweg festgestellt werden konnte: Doch, das war wahr, auch wenn es das nicht sein durfte. Immerhin hatte er nicht Sch… gesagt. Das Wort werde ich hier auch nicht verwenden, wohl aber über ein paar Ereignisse und Entwicklungen schreiben, die einfach nicht wahr sein dürfen: Friedens-Furzideen, Journalisten auf Abwegen und Demokratie als Glücksspiel gehören dazu. Aber so düster soll es nicht enden.
TOP 3 DES TAGES
Moskaus fünfte Kolonne
Vielleicht endet es ja sogar in Bachmut besser, als ich dachte. In einem Kommentar vermute ich, dass die ukrainischen Truppen in der verwüsteten Kleinstadt dem russischen Ansturm nicht mehr lange würden standhalten können. Nie hätte ich mich lieber geirrt, und zumindest der Fachmann Nico Lange versichert, dass Russland an der Front weiter viel Blut verliere, aber wenig Fortschritt mache.
Derweil informiert der Historiker Gerd Koenen über Wesen und Wahn des russischen Terrorstaats: „Über dieser finster-atavistischen Unterwelt erhebt sich ein jeder Realität enthobener, lichter, sakraler Überbau supranationaler Selbsterfindungen, in denen ein Fantasy-Russland als unzerstörbarer Kern einer einzigartigen eurasischen Weltzivilisation virtuell entworfen wird.“
Dem Größenwahn im Osten stehe „eine besonders in Deutschland habituell gewordene Konfliktscheu (gegenüber), die nichts mehr davon weiß oder wissen will, dass es im Notfall immer noch notwendig sein könnte, sich gegen Aggression mit Waffen zu verteidigen“.
Doch auch heute widerstehe ich der Versuchung, die Schwarzers und Wagenknechts mit Worten zu würdigen. Das kann der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk besser, von dem ich mir nur das Schlusszitat borge: „Schämen Sie sich!“
Das möchte man auch dem früheren Ersten Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi, zurufen, der in unerträglicher Manier beim NDR darüber dozierte, wie die USA und Russland sich ganz friedlich über die Ukraine hätten einigen können. Mit dem Beitrag bewegt er sich auf dem Feld der Unanständigkeit und überdies am Rande der Strafbarkeit, denn nach Artikel 26 des Grundgesetzes dürfte auch die Leugnung eines Angriffskriegs verfassungswidrig sein.
Von ähnlicher Güteklasse ist der „Friedensplan“ des Taiwan-hungrigen chinesischen Regimes. Mehr als eine Erörterung lohnt sich die Besichtigung dieser Grafik, mit der jemand die Vorschläge für die Ukraine auf China selbst übertragen hat.
Noch schnell zur angeblichen deutsch-französischen Friedensinitiative. Dem bescheinigt der US-Verteidigungsexperte Andrew A. Michta immerhin, das Zeug zu haben, zu Putins Sieg beizutragen. In Aussicht gestellte europäische Garantien für die Ukraine ordnet der Experte goldrichtig ein: Sie seien lachhaft.
Des Kanzlers vierte Macht
Ähnlich ruppig geht die taz mit einer Kanzleramts-Affäre um. Die Macher des Blatts, das sich noch immer nicht zwischen linksradikalem Aktivismus und glänzender Investigation entscheiden mag, fand für eine alte, leidige Geschichte die tolle Überschrift „Dem Kanzler lieb und teuer“. Es geht um die inzwischen bei Pro Sieben bestallte ehemalige Tagesschau-Moderatorin Linda Zervakis, genauer: um ein Interview vom Juni vergangenen Jahres.
Das hatte sie mit Kanzler Olaf Scholz geführt, nicht etwa im Auftrag des Senders, sondern des Kanzleramts. Der Zeitung hatte sie vergeblich zu verbieten versucht, über die auffallend üppige „Kostenpauschale“ zu berichten, die ihr dafür von der Bundesregierung überwiesen worden war: 1130,50 Euro. Gemein, wie sie nun mal sind, haben die echten Journalisten nachgerechnet, welche Kosten denn ein solches Interview der seinerzeit auf Pro-Sieben-Spesen-Basis reisenden Zervakis verursacht hatte – und kam zum Schluss: Es war ein Honorar.
Was ist nun schlimmer? Eine Kollegin, die nicht offenlegt, dass sie für eine PR-Aktion des Kanzlers Geld bekommen hat? Oder ein Kanzler, der mit unabhängigen Journalisten nicht so gern Umgang pflegt und sich lieber eigene kauft?
Lotterie mit zwei aus drei
Als schlimm dürfte der CDU-Kandidat Max Hochstätter den vorläufigen Ausgang der Bürgermeisterwahl im südhessischen Nauheim empfunden haben. Per Losentscheid kam seine SPD-Konkurrentin Rosalia Radosti gestern Abend in die Stichwahl. Beide hatten je 796 Stimmen auf sich vereinigt. Auch das darf ja wohl nicht wahr sein: ein ausgeklügeltes Wahlsystem – und dann entscheidet der Zufall.
Tatsächlich findet sich das Los erstaunlich oft in deutschen Wahlordnungen, und tatsächlich geht es noch schlimmer als in Nauheim, wo die beiden Glücksspiel-Kandidaten neben der Stimmenzahl noch etwas gemeinsam haben: Keine von ihnen dürfte eine Chance haben gegen den unabhängigen Kandidaten Roland Kappes, der in der ersten Runde auf 43,2 Prozent der Stimmen gekommen war. Im nordhessischen Ahnatal wurde der SPD-Kandidat 2020 per Losentscheid zum Bürgermeister bestimmt. Sein CDU-Konkurrent hatte ebenso viele Stimmen, aber weniger Glück. Trösten konnte er sich mit dem lesenswerten Buch „Achtung Denkfalle“ des Mannheimer Mathematikers Christian Hesse. Darin stellt dieser klar: „Es gibt kein rundum zufriedenstellendes Wahlsystem.“
ZU GUTER LETZT
Einmalig
Dass das faschistoide Gesabbel von Wladimir Putin kaum noch in ernstzunehmenden Nachrichtensendungen übertragen wird, ist schon mal ein Fortschritt. Ein anonymer Ukrainer hat jetzt eine Rede des Diktators so kunstvoll im Film zusammengefasst, dass er dem Vergleich mit Doktor Murkes gesammeltem Schweigen standhält.
Und noch eine Szene aus Großbritannien zum Ausklang: Wie sich hier zwei Menschen, verkleidet in Höflichkeitsformeln, über das Recht zu sitzen und das Recht zu filmen kabbeln, ist sehens- wie hörenswert. Begegnen möchte man beiden lieber nicht im Park.