An den fünf Gymnasien des Kreises Groß-Gerau wurden zusätzliche Klassen eingerichtet. Aber für manches Kind wären Gesamtschulen die bessere Alternative, sagen einige Schulleiter.
KREIS GROSS-GERAU. Zum Schuljahresende, mit dem Wechsel der Viertklässler aus den 28 Grundschulen im Kreis auf weiterführende Schulen, hat auch in diesem Jahr der übliche Ansturm auf die fünf Gymnasien begonnen: Losverfahren wurden bemüht und zusätzliche Gymnasialklassen eingerichtet, um möglichst alle Wünsche zu erfüllen. Warum aber werden Zehn- bis Elfjährige von ihren Eltern partout auf das schnurgerade Gleis zum Abitur geschickt?
Martin Buhl, Leiter der Martin-Niemöller-Schule (MNS), Integrierte Gesamtschule (IGS) in Riedstadt mit 950 Schülern, sagt: "Im Grunde kann eine Prognose über die schulische Entwicklung eines Kindes zu dem Zeitpunkt noch gar nicht getroffen werden. Die Frage der Schulform nach Klasse vier ist keine Lebensentscheidung." Der Wunsch der Eltern, ihr Kind aufs Gymnasium zu schicken, sei oft Resultat des dahinter stehenden Familienimages ("Unser Kind geht auf's Gymnasium") oft spiele auch die Entscheidung von Freunden mit, wobei das, was das einzelne Kind zum erfolgreichen Lernen brauche, zu wenig beachtet werde, führt Buhl aus.
Oft sind Kinder die Leidtragenden der elterlichen Wünsche
Philipp Stannarius, Leiter der Groß-Gerauer Martin-Buber-Schule (MBS), IGS mit 1250 Schülern, setzt hinzu: "Viele Eltern meinen, ihr Kind würde auf dem Gymnasium behüteter aufwachsen. Für sie ist das Gymnasium der Königsweg." Buhl verdeutlicht: "Eltern, für die das Bildungsziel Abi schon früh gesetzt ist, erreichen wir mit unserem Konzept der IGS meist nicht, obwohl wir den gymnasialen Bildungsgang erfolgreich anbieten." Schon auf Schulhöfen höre man Kinder frotzeln: "Ich geh aufs Gymnasium - du aber nicht."
Angesichts ehrgeiziger Wünsche vieler Eltern seien jene Kinder die Leidtragenden, denen die Anforderungen am Gymnasium Druck machen, die Misserfolge erleben und als "Bildungswechsler nach unten" schließlich einen Platz auf einer Gesamtschule suchen: "Es gibt einen konstanten Anteil Schüler, der das Gymnasium verlassen muss. Und es sind nicht immer die, die von der Grundschule keine Eignung ausgesprochen bekamen. Wir können aber aus Kapazitätsgründen nicht jeden aufnehmen", sagt Stannarius. Zudem: "Alle, die das Gymnasium nicht schaffen, sind frustrierte Schüler. Es dauert, bevor der Mut zur Leistung neu aufgebaut ist."
Die Werbetrommel für Gesamtschulen muss nicht gerührt werden
Martin Buhl sagt, dass pro Schuljahr 25 bis 30 Schüler aus Gymnasien an die Niemöller-Schule wechselten. Nicht, dass die beiden Schulleiter die Werbetrommel für die Integrierte Gesamtschule rühren müssten - "Die Anmeldezahlen sind konstant hoch" - doch wollen sie das Bewusstsein dafür schärfen, dass Gesamtschulen eine gute Wahl sind, wenn Grundschulkinder noch nicht die nötige Reife haben, um den Ansprüchen der Gymnasien zu genügen.
Lesen Sie auch: Schulstart: Welcher Ranzen passt zum Kind?
Buhl und Stannarius stellen klar, dass Gesamtschulen sich nicht in Konkurrenz zu Gymnasien, sondern als Alternative sähen: "Ich denke, wir sind die gerechtere Schulform, werden durch Leistungsdifferenzierung und Förderung auf drei Niveaus ab Klasse sieben jedem individuell gerecht", so Philipp Stannarius. Dem "Gleichschritt" der Schüler, den die Lehrpläne vorgäben, werde entgegengewirkt. "Keiner muss in allen Fächern gleich gut sein und Sitzenbleiben gibt es nicht. Das Bildungsziel Abitur ist nicht gesetzt, aber erreichbar", erklärt er. Martin Buhl sagt: "Integration und Chancengleichheit: Darin sind wir stark."
Entwicklungsmöglichkeiten auf Gesamtschulen
Stannarius bestätigt: "Niemand bekommt bei uns einen Schulabschluss in den Schoß gelegt und doch produzieren wir Bildungsgewinner." Kämen mit Klasse fünf noch 90 Prozent der Schüler mit Haupt- oder Realschulempfehlung an eine IGS, so seien es über 50 Prozent des Jahrgangs zehn, die die IGS mit der Option, auf eine gymnasiale Oberstufe zu wechseln, verlassen. Stannarius und Buhl betonen zudem: "Auch ein guter Hauptschulabschluss ist viel wert. Wir machen Schülern passgenaue Angebote."
Das könnte Sie auch interessieren: Psychische Gesundheit schon in der Schule fördern
Buhl bilanziert: "Gesamtschulen sind der Motor der pädagogischen Entwicklung. Wir sind dem humanistischen Bildungsideal verschrieben, fachliches Lernen und Stärkung sozialer Kompetenzen sind zwei Seiten derselben Medaille." Und Stannarius resümiert: "Wir sitzen nicht im Elfenbeinturm und haben an der IGS ein faires und friedliches Miteinander. Vielfalt ist Normalität - in der Gesellschaft und an Gesamtschulen: Ohne multikulturelle Zusammenarbeit gelingen weder Gegenwart noch Zukunft."