Ob einer der 24 Schüler der Theaterklasse 6d später einmal tatsächlich den Beruf des Schauspielers ergreifen wird? Und dann an den 29. März 2022 zurückdenkt, an dem er zum...
WIESBADEN/HOCHHEIM. Ob einer der 24 Schüler der Theaterklasse 6d später einmal tatsächlich den Beruf des Schauspielers ergreifen wird? Und dann an den 29. März 2022 zurückdenkt, an dem er zum ersten Mal auf einer großen Bühne stand?
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Die Schultheatertage des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden erlauben es den Kindern, nicht nur in einer Schulaula, sondern im Kleinen Haus aufzutreten. Also auf den Brettern, die laut Friedrich Schiller die Welt bedeuten. Die Theaterlehrerin Nina Hahn hatte ihre Schüler ermuntert, ein eigenes Stück zu schreiben. Nur das Rahmenthema „Zeit“ hatte sie vorgegeben. Dann leitete sie ein halbes Jahr lang den Schaffensprozess. Zurückhaltend sortierte, koordinierte und half sie, wenn etwas nicht passen wollte. Trotz vielfältiger pandemiebedingter Hindernisse entstand ein erstaunliches Werk mit dem Titel „Zeitdiebe“. In neun Szenen reflektiert es nicht nur die persönlichen Erlebnisse der Kinder, sondern auch die aktuelle, unfriedliche Zeit.
Die Bedingungen am Tag der Aufführung sind nicht einfach. Um 9 Uhr stehen die Jugendlichen im Alter von 11 bis 13 Jahren zum ersten Mal auf der großen Bühne des „Kleinen Hauses“. Mit Blick auf 285 leicht abgedunkelte Sitzplätze vor ihnen. Nur zwei Stunden stehen ihnen zur Verfügung, um sich mit der ungewohnten Bühne und der professionellen Ton- und Beleuchtungstechnik vertraut zu machen. Um 11 Uhr beginnt bereits die Aufführung. Luisa Schumacher von der Theaterpädagogik des Staatstheaters begrüßt die Zuschauer.
Wie die Zeit vergeht - das kommt ganz darauf an
Dann geht es sofort los. Schon die erste Szene ist beeindruckend, verbreitet bewusst hektische Stimmung. Zu den elektronischen Schlagzeugbeats der Elektropop-Gruppe „Kraftwerk“ rucken die Zeiger von drei Uhren, Menschen laufen gehetzt vorwärts, rückwärts, schnell, langsam, vorne und hinten über die Bühne. Eine Schauspielerin geht nach vorne, tritt im Scheinwerferspot ans Mikrofon und spricht über die bei den Erwachsenen ständig fehlende Zeit: „Keine Zeit! Keine Zeit! Doch haben nicht alle Menschen gleich viel Zeit?“ Abwechselnd spricht die Gruppe über Kalender und Uhren, dass einem eine Stunde wie eine Ewigkeit oder auch nur wie ein Augenblick vorkommen kann. Und sie rezitieren, wie viele Sekunden eine Stunde, ein Tag und ein Jahr haben.
Dann spielen sie erstaunlich gut den großen Bühnenraum füllend und von Musik und Geräuschen untermalt verschiedene Beispiele von schnell und langsam vergehender Zeit: Im Flugzeug, an der Bushaltestelle, an der Gitarre, in der Mathestunde, beim Fotoshooting oder wartend in der Schlange stehend. Eine Lebensweisheit wird herausgearbeitet: „Nie an die ganze lange Straße denken, die noch gefegt werden muss, lieber nur an den nächsten Schritt, den nächsten Atemzug, auch so kommt man ans Ziel.“
Die Szenerie wechselt, eingetaucht in warmes Licht, untermalt vom Keyboard und sentimentalen Gitarrenspiel der Gruppe Coldplay tragen die Kinder einzeln und in kleinen Gruppen schöne Erinnerungen vor: Ans Schwimmen lernen, an ein besonderes Wiedersehen, die Einschulung, eine Urlaubsreise und das Geschwisterchen zum ersten Mal im Arm halten.
Vom Wunsch am Zeitenrad zu drehen
Dann sprechen alle immer wieder wie ein Chor aus dem dunklen Hintergrund: „Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich …“ und jeweils ein Kind kommt nach vorne ans Mikro in den Lichtkegel und erzählt: „Mit Opa nochmal Fahrrad fahren, meinen Zwerghamster streicheln, in Afrika die Familie meiner Mama kennenlernen, mit meinem verstorbenen Neffen spielen, wie wir es endlich über die Grenze geschafft haben und im Flugzeug in die Schweiz sitzen.“
Ein Junge kündigt an: „Zeit, biologisch betrachtet.“ Requisiten werden aufgebaut, in einem chemischen Experiment entstehen zwei Wunderlampen, ständig treten Kinder nach vorne und sprechen ihren selbst verfassten Text: „Wunden benötigen 14 bis 21 Tage, bis sie heilen, wir atmen 30 Mal pro Minute, Kinder lachen 400 Mal am Tag, Erwachsene nur 15 Mal“ und so weiter. Dann leuchten die Lavalampen und werden stolz dem Publikum gezeigt.
Eine Szene in einem Nagelstudio folgt. Mitarbeiter und Kunden beraten, wie man Zeit sparen könnte. Letztendlich wenden sie sich ans Publikum: „Aber was machen wir mit der gesparten Zeit?“
Die letzte Szene gab dem Stück den Namen: „Zeitdiebe“. Jeweils ein Kind erklärt, was seine wertvollste Zeit ist und ein anderes versucht, sie zu stehlen. Die finale Erkenntnis: „Passt gut auf eure wertvolle Zeit auf und genießt sie jeden Moment. Zeitdiebe lauern überall!“
Alles hat seine Zeit - Botschaften auf Luftballons
Beim strahlenden Schlussbild werfen die Kinder bunte Luftballons von der vollen Bühne ins Publikum. Sie leuchten von innen und sind mit Botschaften zum Thema Freude und Liebe beschriftet. Mit ihren Körpern, Armen und Händen bilden die Kinder dazu die Symbole. Ihre Körpersprache will „Zeit für Frieden“ in die Welt hinaus rufen. Dazu spielt ein Piano den wunderbaren Song „Imagine“ von John Lennon.
Frenetischer Beifall belohnt die jungen Schauspieler und Schauspielerinnen. Man sieht ihnen die Erleichterung an: Alles hat geklappt! Dreißig Minuten lang. Riesengroße, fast übermütige Begeisterung und leuchtende Augen strahlen von oben, von der Bühne zu den Besuchern herab. Blumen werden verteilt, die Theatermacher ermuntern alle noch zu einem Erfahrungsaustausch, Fragen und Antworten wechseln von unten nach oben und auch zurück.
Das Schlussbild findet im Freien statt, auf den Stufen vor dem Theatereingang mit den weißen Säulen. Das sehenswerte Stück wird am 16. Juli dieses Jahres noch einmal aufgeführt. Diesmal als Bühnenprogramm beim 50-jährigen Jubiläum der Heinrich-von-Brentano-Schule in Hochheim.