Fast tot wegen Blutvergiftung: So gefährlich ist die Sepsis

Im Krankenhaus hängt Marie am Tropf. Doch trotz einer ordentlichen Dosis Antibiotika sinken die Entzündungswerte nicht.
© Marie Mayer

Als Marie in die Klinik kommt, ist es fast zu spät. Die Ärztin hat ihre Blutvergiftung nicht erkannt. Unbehandelt ist die Erkrankung oft tödlich. Viele kennen die Symptome nicht.

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Lahn-Dill-Kreis/Dieburg. Mitten in der Nacht werden die Schmerzen unerträglich. „Ich sterbe“, schießt es durch Maries Kopf. „Warum hört es nicht auf?“ Während sie nach dem Handy greift, legt sich ein grauer Schleier über ihre Augen. „Gehen Sie nach Hause“ hatte die Ärztin doch vorhin noch gesagt. „Das ist nur die Grippe. Sie sind erschöpft.“ Sie muss es doch wissen. Oder nicht? Marie spürt, wie ihr Herz immer schneller schlägt. Woher nimmt es diese Kraft eigentlich noch? Am anderen Ende der Leitung hebt ihr Kumpel ab. „Ich muss ins Krankenhaus“, keucht sie. „Ich schaffe es nicht mehr.“ Drei Tage später wird eine Ärztin ihr sagen, dass Marie mit dieser Entscheidung ihr eigenes Leben gerettet hat.

Angefangen hatte alles mit einer heftigen Grippe, kurz vor Silvester. Fieber, Halsschmerzen, Müdigkeit. Das volle Programm. „Muss ich durch“, denkt Marie und ärgert sich. Eigentlich steht zum Jahresbeginn ein neuer Job an. Der erste Tag als Volontärin in unserer Online-Redaktion in Wetzlar. Stattdessen: Bettruhe in der Wohnung im südhessischen Dieburg. Plötzlich wird alles schlimmer. Heftige Unterleibsschmerzen kommen dazu. „Der ganze Körper hat wehgetan. Wie überfahren.“ Schmerztabletten wirken nicht. Dann streikt der Kopf.

Eine Ärztin schätzt die Lage falsch ein

An einem Samstag schleppt sich Marie mittags zum ärztlichen Bereitschaftsdienst. Normalerweise stecke sie Schmerzen gut weg, sagt sie zur diensthabenden Ärztin. Die 28-Jährige hat seit Jahren Endometriose. Eine chronische Erkrankung, bei der Gebärmuttergewebe, das eigentlich nur in der Gebärmutterschleimhaut vorkommt, außerhalb der Gebärmutter wächst. Schmerzen gehören zu Maries Alltag. Aber so schlimm war es noch nie. Doch die Ärztin winkt ab. Die Grippe. Das Fieber. Kein Wunder, dass man da geschwächt ist. Ruhe muss helfen.

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Im Krankenhaus hängt Marie am Tropf. Doch was sie hat, erkennen die Ärzte zunächst nicht.
Im Krankenhaus hängt Marie am Tropf. Doch was sie hat, erkennen die Ärzte zunächst nicht.
© Marie Mayer

In der Nacht wird Marie ins Krankenhaus gefahren. In der Notaufnahme hat eine Orthopädin Dienst, sie schickt Marie auf die gynäkologische Station. Corona-Schnelltest. Papierkram. Ultraschall. „Flüssigkeit im Bauch“, sagt die Gynäkologin. „Zysten.“ „Klar, von der Endometriose“, denkt Marie. Sie bleibt über Nacht im Krankenhaus. Eine klare Flüssigkeit sickert durch die Nadel in ihrem Arm. Was sie hat? Noch unklar.

Am nächsten Tag gibt’s Antibiotika. Die Entzündungswerte im Blut sind viel zu hoch. „Das sieht nicht gut aus“, sagt eine Ärztin. Das Fieber steigt auf 41 Grad. Die Entzündungswerte fallen nicht. Dann steht eine Anästhesistin am Bett. Bevor Marie realisiert, was los ist, wird sie in den OP geschoben. „Alles entzündet“, sagt der Arzt, als sie wieder wach ist. „Egal, wo man reingeschnitten hat.“ „Was wäre passiert, wenn ich in der Nacht nicht hergebracht worden wäre?“, fragt Marie bei der Abschlussuntersuchung. Die Antwort: „Dann könnten wir dieses Gespräch nicht mehr führen.“ Schließlich fällt das entscheidende Wort: Sepsis.

Ein Drittel der Todesfälle durch Blutvergiftung ist vermeidbar

Marie hatte eine schwere Blutvergiftung. Sie ist nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Tumor-Erkrankungen die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Jährlich sterben 70.000 bis 85.000 Menschen daran. „Ein Drittel dieser Todesfälle ist vermeidbar“, sagt Infektiologin Dr. Wiltrud Maria Moll von den Lahn-Dill-Kliniken. Doch kaum jemand kennt die Symptome. Und selbst wenn, dann sind sie nicht so leicht zuzuordnen. Fieber, beschleunigte Atmung, erhöhter Puls - damit fängt es meistens an. „Sehr unspezifisch“, sagt Moll.

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Eine schwere Blutvergiftung wurde für unsere Volontärin Marie Mayer zur lebensbedrohlichen Gefahr. Eine Ärztin hatte die Symptome nicht erkannt.
Eine schwere Blutvergiftung wurde für unsere Volontärin Marie Mayer zur lebensbedrohlichen Gefahr. Eine Ärztin hatte die Symptome nicht erkannt.
© Marie Mayer

Später kommen zum Beispiel Desorientierung und Verwirrtheit dazu. Oder ausbleibende Urinausscheidungen. Dann wird es gefährlich. Wann sollte man zum Arzt gehen? „Herzrasen oder Fieber kann man mal haben“, sagt Infektiologin Moll. „Das muss nicht gleich etwas Schlimmes sein. Es ist wichtig, gut auf den eigenen Körper zu hören. Wenn die Symptome deutlich heftiger sind als gewöhnlich, dann sollte man zum Arzt gehen.“

Eine Sepsis ist ein lebensgefährlicher Notfall, der ähnlich wie ein Herzinfarkt oder Schlaganfall sofort behandelt werden muss. Die Symptome zeigen, dass der Körper einen heftigen Kampf führt. „Die körpereigene Reaktion auf eine Infektion wird falsch reguliert“, erklärt Dr. Jörg Engel. Er ist Chefarzt der Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum Wetzlar. Am Anfang steht also eine Infektion, eine Entzündung. Die muss nicht auf eine äußerliche Wunde zurückzuführen sein. Auch Entzündungen im Körper können eine Sepsis verursachen. Verantwortlich sind in den meisten Fällen Bakterien, aber auch Viren, Pilze oder Parasiten.

Das Immunsystem sieht eine extreme Gefahr und antwortet sehr stark darauf.

Dr. Wiltrud Maria Moll Leitende Ärztin für Infektiologie und Antibiotic Stewardship, Lahn-Dill-Kliniken

Normalerweise gelingt es dem Körper, die Infektion in Schach zu halten. Doch wenn die Erreger ins Blut gelangen und sich ausbreiten, reagiert das Immunsystem über. „Das Immunsystem sieht eine extreme Gefahr und antwortet sehr stark darauf“, erklärt Infektiologin Moll. Die Abwehrzellen greifen nicht nur die Erreger, sondern auch das eigene Gewerbe an. Das führt im schlimmsten Fall zu einem septischen Schock oder zu Multiorganversagen. Unbehandelt verläuft eine Sepsis oft tödlich oder geht mit schweren Spätfolgen einher.

Doch die unspezifischen Symptome können die Früherkennung auch für den Arzt erschweren - wie im Fall von Marie, bei der die Ärztin die Symptome auf die Grippe schob. Ein Punktesystem soll deshalb bei der Einschätzung helfen, sagt Moll. Aktuell wird dafür in der Regel der „National Early Warning Score“ (kurz „NEWS“) verwendet. Dabei werden die Atemfrequenz, die Sauerstoffsättigung im Blut, die Körpertemperatur, der Blutdruck, der Puls und das Bewusstsein des Patienten erfasst. Je nachdem, wie weit die Werte von einem Normwert abweichen, werden Punkte vergeben und addiert. Das Ergebnis dient als erste Entscheidungshilfe.

Wir müssen herausfinden, wo die Eintrittspforte liegt, also wo sich die Entzündung befindet.

Dr. Jörg Engel Chefarzt der Anästhesiologie und Intensivmedizin, Klinikum Wetzlar

Im nächsten Schritt liefern Blutwerte wichtige Daten, sagt Chefarzt Engel. Und: „Wir müssen herausfinden, wo die Eintrittspforte liegt, also wo sich die Entzündung befindet.“ Dann können gezielt Antibiotika zur Behandlung eingesetzt werden. Manchmal ist auch eine Operation nötig, bei der die Ärzte den Entzündungsherd entfernen oder verkleinern.

Wenn von einer Blutvergiftung die Rede ist, denken viele Menschen noch an einen roten Strich an Arm oder Bein, der sich in Richtung Herz zieht. Doch ein roter Strich signalisiert keine Sepsis, sondern eine Entzündung der Lymphbahnen, erklärt Infektiologin Moll. „Die Bakterien breiten sich dabei über die Lymphbahnen in Richtung Herz aus. Das kann man in diesen Fällen dann tatsächlich sehen.“ Eine solche Entzündung lässt sich gut behandeln und ist nicht bedrohlich. Allerdings kann theoretisch - wie bei jeder Entzündung - eine Sepsis daraus werden, wenn die Bakterien ins Blut gelangen. „Wenn die Erreger schon einmal in den Lymphbahnen sind, ist dieser Weg natürlich kurz“, sagt Moll.

Risikofaktoren: Entzündungen und Immunschwäche

Ein erhöhtes Risiko für eine Sepsis haben vor allem Menschen, die ohnehin mit Entzündungen zu tun haben oder deren Immunsystem geschwächt ist. Rheuma-, Diabetes- oder Krebs-Patienten zum Beispiel. Oder Menschen, die keine Milz mehr haben. Außerdem ältere Menschen und Neugeborene. „Endometriose kann auch ein Faktor sein“, sagt Jörg Engel. Wie kann man sich schützen? „Allgemein natürlich durch eine gesunde Lebensführung“, sagt Infektiologin Moll. Kein Übergewicht, gesunde Ernährung und angemessene Körperhygiene. Außerdem rät Moll, die Standardimpfungen vornehmen zu lassen. „Dann ist das Immunsystem besser vorbereitet und es kommt gar nicht erst zur möglicherweise gefährlichen Infektion.“