Pfingsten und das 9-Euro-Ticket haben die Bahn vor Herausforderungen gestellt. Kritiker sehen sich bestätigt. Für die Zukunft werden Forderungen nach langfristigen Lösungen laut.
STUTTGART/BERLIN/WESTERLAND. „Bitte habt Verständnis, ich weiß, es ist eine Zumutung, wir können leider nichts dafür ... Bitte, bitte bleibt draußen und nehmt den nächsten.“ Eine verzweifelte Zugbegleiterin fleht die Fahrgäste an, den völlig überfüllten Zug zu verlassen oder gar nicht erst einzusteigen: Ein Video im sozialen Netzwerk „TikTok“ hat den symptomatischen Moment festgehalten. Kurze Zeit später muss die Bundespolizei den Zug, der von Stuttgart über Göppingen und Ulm nach Friedrichshafen am Bodensee fährt, räumen. Und es ist erst Donnerstagabend - das Pfingstwochenende, das als erste Bewährungsprobe für das 9-Euro-Ticket gilt, hat noch gar nicht begonnen.
Mit dem Start der Reisewelle erhöht sich dann bundesweit der Betrieb, viele Regionalzüge vor allem in Urlaubsregionen sind proppevoll. Reisende berichteten von völlig überfüllten Zügen, es sei auch zu Verspätungen gekommen. Manche Bahnkunden hätten keinen Sitzplatz gefunden, aus einigen Zügen mussten Fahrgäste wieder aussteigen. Wie häufig überfüllte Züge gestoppt werden mussten, war zunächst nicht von der Deutschen Bahn zu erfahren. Wie das Unternehmen berichtete, waren Regionalzüge insbesondere zu touristischen Zielen sehr stark nachgefragt - etwa Richtung Ost- und Nordsee. Auf der Nordseeinsel Sylt war die Lage entgegen vorheriger Befürchtungen auch in der Nacht zum Montag ruhig geblieben. Die meisten Einsätze gingen laut Polizei auf Beschwerden über Ruhestörung zurück - bedingt durch Touristen in Feierlaune, darunter eine Gruppe Punks.
Bilanz der Rabattaktion ist erst in drei Monaten geplant
Mit dem 9-Euro-Ticket können Inhaber jeweils im Juni, Juli und August mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) durch ganz Deutschland fahren. Eine Bilanz über die vergangenen Mittwoch gestartete Rabattaktion soll erst nach drei Monaten gezogen werden, aber Forderungen für den Nahverkehr gibt es bereits. So sieht die SPD-Verkehrsexpertin Dorothee Martin die Rabattaktion als Chance, fordert aber grundlegende Verbesserungen. Es sei klar, „dass wir dauerhaft mehr Geld im ÖPNV brauchen“, betonte die verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion im „Handelsblatt“. In vielen Regionen sei das Angebot ungenügend. Gleichzeitig stiegen die Kosten auch bei den Verkehrsunternehmen.
Der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, sagte dem Blatt, „wir brauchen keinen kurzen ÖPNV-Sommer, sondern ein flächendeckendes ÖPNV-Land“. Deshalb müsse darüber nachgedacht werden, perspektivisch ein bundesweit gültiges, einheitliches und vergünstigtes Ticket folgen zu lassen. Erst mit einer dauerhaften Mittelerhöhung durch Bund und Länder entstünden die Spielräume, um mehr Busse und Bahnen fahren zu lassen und auch tarifliche Angebote deutlich zu verbessern, sagte Landsberg.
Fahrgastverband Pro Bahn übt Kritik
Ähnlich äußerte sich die Interimschefin des Verbraucherzentrale Bundesverbands, Jutta Gurkmann. „Um den ÖPNV zu stärken und Fahrgäste dauerhaft zu halten, sind konstant günstige Ticketpreise wichtig“, sagte sie. „Die Bundesregierung sollte deshalb ein Preismoratorium für Busse und Bahnen beschließen und in einen kundenfreundlichen ÖPNV und attraktive Angebote investieren.“ Gurkmann regte als zusätzliche Finanzierungsoption eine „Nutznießer-Finanzierung“ an: Arbeitgeber, Einzelhändler oder Private, deren Immobilien durch einen guten ÖPNV-Anschluss an Wert gewinnen, sollten daran beteiligt werden.
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Die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm sagte mit Blick auf die Forderung nach einem bundesweit unbegrenzt gültigen ÖPNV-Billigticket, „mit einem Angebot für alle, auch die Zahlungskräftigen, reduziert man ja nur den finanziellen Spielraum, ohne dass man große Effekte erzielen dürfte“. Denkbar wäre, jungen Menschen ein extrem günstiges Angebot zu machen. So gewöhnten sie sich an die Nutzung öffentlicher Verkehrssysteme, die dann mit zunehmendem Ausbau attraktiver würden, sagte die Ökonomin.
Der Fahrgastverband Pro Bahn sieht sich nach dem ersten Härtetest für das 9-Euro-Ticket in seiner Kritik bestätigt. Das Chaos sei vorhersehbar gewesen und Folge eines politischen Angebots, ohne dafür über die nötigen Kapazitäten im Bahnverkehr zu verfügen, sagte Karl-Peter Naumann am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Gut am Neun-Euro-Ticket sei, dass dadurch der öffentliche Nahverkehr wieder ins Gespräch gebracht worden sei. „Es funktioniert aber nur, wenn die Kapazitäten vorhanden sind“, betonte Naumann, der für die kommenden Sommermonate weitere Probleme erwartet.
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