Ein Sonntag in den Ferien. Freunde sind zu Besuch. Das Freibad ist zu voll, zum Grillen fehlt die Kohle. Wie wär’s mit einer privaten Stadtführung? Man nehme: je ein...
Wetzlar. Ein Sonntag in den Ferien. Freunde sind zu Besuch. Das Freibad ist zu voll, zum Grillen fehlt die Kohle. Wie wär’s mit einer privaten Stadtführung? Man nehme: je ein Fahrrad und eine Gratis-Broschüre der Tourist-Info. Und lasse sich von der Stadtmauer durch Wetzlar leiten.
Was so einfach klingt, ist es auch – wenn man die Augen aufhält. Zwar sind vom früher etwa 1,7 Kilometer langen Stadtmauerring nur noch vier zusammenhängende Stücke zu sehen: Am Steighausplatz, im Rosengärtchen, ober- und unterhalb des Säuturms und am Wetzbach längs zur Nauborner Straß;e. Aber: Der Verlauf der Stadtbefestigung, die bis zu elf Meter hoch und zwei Meter dick war, ist noch auszumachen. Der heutige Altstadtgrüngürtel aus fünf Anlagen folgt ihr grob – kein Zufall: Was dieser Tage die Anlagen sind, das waren früher Gärten, Wiesen oder Felder direkt vor der Stadt.
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Etwa ab Mitte des 13. Jahrhunderts war die Mauer weitgehend komplett – Historiker wissen das, weil 1267 das erste Stadttor in Urkunden auftaucht: das Obertor. Tore machen aber erst Sinn, wenn es keine anderen Zugänge in die Stadt mehr gibt.
Teil sechs der Reihe "Heimat Erfahren" startet auf dem Schillerplatz und begibt sich direkt in eine der Anlagen: In die Schladming-Anlage am Wetzbach. Auch sie liegt direkt vor der Stadtmauer, die hier eine Besonderheit hatte: Eine vorgelagerte Mauer als Verstärkung. Zwischen diesen beiden Wänden aus Bruchstein radeln wir durch die malerische Anlage, queren die Silhöfertorstraß;e (das Silhöfer Tor wurde 1271 erstmals erwähnt und 1831 abgerissen) und gelangen in die Straß;e "An der Stadtmauer". Welch ein Auftakt!
Die Mauer war nicht undurchdringbar: Neben den fünf groß;en Toren gab es weitere kleine Pforten
Tourenleiter Peter Fuess setzt noch einen obendrauf: Der alte jüdische Friedhof, der in eben jenem Zwinger zwischen den beiden Mauern liegt, ist verschlossen. Wer ihn besuchen will, kann bei der Tourist-Information am Domplatz nach dem Schlüssel fragen – Fuess hat das getan. Und so öffnet sich hinter einer knarzenden Holztüre eine andere Welt: Ein schmaler Streifen zwischen Mauern, einem Garten gleich, wo ab dem 17. Jahrhundert die Toten der jüdischen Gemeinde bestattet wurden. Vor 117 Jahren fand die letzte Beisetzung statt, ein schwarzer Grabstein erinnert. Von einst rund 300 Grabsteinen sind heute noch etwa 20 zu sehen.
Wie eng die Stadtmauer die Stadt einfasste, zeigt der Blick vom Friedhof: Auf der Innenseite, am Steighausplatz, lehnen sich Häuser geradezu an die Stadtmauer an.
Neben den fünf groß;en Toren an den Hauptstraß;en in die Stadt gab es auch kleinere Öffnungen in der Mauer, die Pforten. Eine davon ist die Tränkpforte in der Nähe der Alten Lahnbrücke. Sie diente Handwerkern dazu, sich aus dem Mühlgraben oder der Lahn Wasser zu holen. Und jedem, der diese Tour fährt, als charmanter Weg aus der Stadt zur Colchester-Anlage auf der Lahninsel. Dort gibt es keine Reste der Mauer, denn sie verlief direkt am Mühlgraben. Zum Grüngürtel gehört die Anlage dennoch – und bringt uns steigungsfrei zum nächsten Halt. Beim Stopp vor der Hausermühle ist die Stadtmauer im Querschnitt zu sehen, abgesetzte Pflastersteine in der Fahrbahn markieren, wie sie weiter verlaufen wäre. Dieser Ort ist wichtig, stand hier doch bis zu seinem Abriss 1824 das Hauser Tor, benannt nach der Vorstadt Hausen. Apropos Vorstadt: Ja, Silhofen gab es auch.
Bergauf geht es nun. Weil die Stadtmauer im Rosengärtchen zwar gut zu sehen, aber schlecht zu erradeln ist, führt die Tour durch das Herz der Altstadt bergauf – vorbei an drei ehemaligen Rathäusern: Zuerst dem heute als "Altes Rathaus" bekannten Bau in der Hauser Gasse, 1782 als Archiv des Reichskammergerichts begonnen, Rathaus von 1911 bis 1996.
Ein Stück weiter oben steht am Fischmarkt (Nummer 13) das wohl erste, ab etwa 1350 zu diesem Zweck genutzte, Rathaus der Stadt. In ihm saß; anschließ;end von 1690 bis 1806 das Reichskammergericht. Und schließ;lich befindet sich auf dem Domplatz das Rathaus der Periode von 1690 bis 1911, ehemaliges Kaufhaus der Stadt und heute Tourist-Info.
Kaufhaus? Nein, das war kein Supermarkt. Sondern der Ort, an dem im Mittelalter durch die Stadt reisende Händler ihre Waren herzeigen mussten, wie Peter Fuess erklärt. Sie wurden vermessen – daher hängt an der Fassade die "Wetzlarer Elle", ein mittelalterliches Maß;, – zudem mussten die Händler ihre Waren hier anbieten.
Vom Domplatz geht es oben rechts in die Blaunonnengasse, wo das älteste gotische Steinhaus der Stadt steht – ein Schild weist darauf hin. Das ist gut so, denn während viele Fachwerkbauten in der Umgebung mit Farben und Formen protzen, ist dieses Haus... einfach ein Haus. Klein und schlicht.
Nach einem kurzen Anstieg wird der Lottehof erreicht, ganz früher ein Hof der Deutschordensritter, später der Ort, an dem Goethes Schwarm Charlotte Buff aufwuchs – als zweitältestes von 16 Kindern. Heute sind hier das Stadtmuseum und das Lottehaus zu sehen.
Nach einer Rast radeln wir wieder der Mauer entgegen. Das Wöllbacher Tor beziehungsweise seinen Standort lassen wir aus, passieren den Kornmarkt, wo Goethe während seines Aufenthalts im Jahr 1772 zur Miete wohnte, und steuern das Obertor an. Auch dieses Tor ist längst abgerissen, geblieben sind zwei gedrungene Häuser an der Obertorstraß;e. Sie standen einst hinter dem Tor und dienten als Zollstationen. Hier kassierte die Stadt von jedem, der durchreiste, Wegezoll. Bevor wir zollfrei hindurch radeln, geht es einmal um die Ecke. In der Butzbacher Gasse steht, leicht versteckt zwischen zwei Häusern, ein gut erhaltenes Stück Stadtmauer mit einem Bonus: Ein originalgetreu ergänzter Wehrgang vermittelt das Aussehen der Anlage und verdeutlicht ihre Ausmaß;e.
Nach der Rast im Schatten der Mauer geht’s nun also am nicht mehr vorhandenen Obertor hinaus aus der Altstadt und rechts ums Eck. Auf dem Platz vor der Stadthalle lernt man, warum eine Mauer im Speziellen und Schutz im Allgemeinen so bedeutend waren: Weil die Stadt seit jeher von Fremden umgeben war – bis ins 18. Jahrhundert hinein war das Wetzlarer Umland stark zersplittert, verschiedene Fürsten und Grafen hatten Grenzen mit der alten Reichsstadt. Markiert wurden diese Grenzen durch Steine, von denen einige auf dem Platz unterhalb der Stadthalle zusammengetragen worden sind und als "Wetzlarer Grenzstein-Lapidarium" an die Zeit erinnern, als Garbenheim im "Ausland" lag – und Solms noch viel mehr.
Scharf geht es bergab, dann stehen wir vor dem letzten der ehemals mindestens neun Türme in der Stadtbefestigung: dem Säuturm, der im Mittelalter Schneiderturm hieß;. Für die Unterhaltung der Stadtmauer – und damit auch der Türme – waren einst die Zünfte zuständig. Abschnittsweise versteht sich. Hier oben waren das die Schneider, daher die Benennung des Turmes. Und weil man später neben dem Turm eine Pforte anbrachte, um die Schweine auf die Weiden zu treiben, heiß;t das zur Stadtseite hin offene Bauwerk heute Säuturm.
Von dort ist der Weg zum Ausgangspunkt auf dem Schillerplatz leicht zu finden: bergab, vorbei am Palais Papius, dem Reichskammergerichtsmuseum, dem Haus in der Zuckergasse 8, in dem 1767 die erste Zeitung der Stadt gedruckt wurde: die "Wetzlarischen Anzeigen".
Wer ein wenig mehr Zeit hat, stoppt noch am Haus "Zum Reichsapfel" in der Engelsgasse 2/Ecke Kornmarkt und schiebt danach ganz gemütlich Richtung Jäcksburg. Und bleibt stehen, um an einer Häuserfront den Spruch zu entziffern, der auch für manchen Sonntagsbesuch gilt: "Bring Glück, wenn du einkehrst. Sei gesegnet, wenn du ausgehst."
TOURINFOS
Name: Alte Steine als Wegweiser
Start+Ziel: Schillerplatz
Länge: 3,3 Kilometer
Dauer: 1,5 Stunden
Höhenmeter: 106
Steigung: gering
Orte: Wetzlar
ÖPNV: Leitzplatz, diverse Stadtbuslinien
Höhepunkte: jüdischer Friedhof, Fischmarkt, Butzbacher Gasse, Schladming-Anlage, Engelsgasse.