Im Kulturforum berichten Polizisten und Experten, dass die Fallzahlen von Pornografie auf Schülerhandys sprunghaft steigen. Eltern erhalten Tipps, wie sie Kinder schützen können.
WIESBADEN. Nacktfotos, die Kinder und Jugendliche von sich und anderen machen. Oder Videos, die sie sogar beim Masturbieren oder Geschlechtsverkehr zeigen: All diese strafbaren Inhalte finden sich immer öfter auf Schülerhandys, die auch noch vielfach via Internet verbreitet werden.
Die Deliktzahlen haben in den vergangenen Jahren massiv zugenommen – das betrifft schon Schüler ab der fünften Klasse. „Wir setzen mittlerweile allein 30 Kollegen für die Bearbeitung dieser Fälle ein. Das ist ein Irrsinn. Für einen normalen Mordfall braucht man fünf Kollegen im Schnitt“, betont Stefan Müller, der Präsident des Polizeipräsidiums Westhessen, am Mittwochabend im Kulturforum.
Polizei initiiert Kampagne
Da die Tendenz weiter steigend ist, haben das Polizeipräsidium, die Gesellschaft Bürger und Polizei und das Netzwerk gegen Gewalt eine Kampagne initiiert, an der sich der Wiesbadener Kurier beteiligt. „Wir müssen was machen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, sagt Müller mit Blick auf die Kinder. So ist die Veranstaltung „Pornografie auf Schülerhandys – und jetzt?“ entstanden: Verschiedene Experten haben im Kulturforum rund 150 Lehrern, Elternteilen und Interessierten vor Augen geführt, wie vielschichtig und brisant das Thema ist.
Allein im Jahr 2021 gab es 352 Fälle von Kinderpornografie (unter 14 Jahre) im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Westhessen. Bei der Jugendpornografie waren es 99 erfasste Fälle (14 bis 18 Jahre). Tatverdächtige sind meistens die Schülerinnen und Schüler selbst. „Wenn wir von einem Fall mitbekommen, gehen wir auch mit einem Durchsuchungsbeschluss zur Wohnung der Eltern, die oft ahnungslos und überrascht sind. Dann werden alle mobilen Endgeräte überprüft“, erklärt Polizeibeamter Oliver Schächer im Gespräch mit Stefan Schröder. Der frühere VRM-Chefredakteur führt durch den Abend.
„Seit 2018 sind die Fallzahlen sprunghaft gestiegen“
Schächer ist Teil der Besonderen Aufbauorganisation BAO Fokus: Diese Einheit im Polizeipräsidium geht unter anderem den vielen Fällen von deutschen Nutzern nach, die das BKA von der amerikanischen Nichtregierungsorganisation NCMEC erhält. Online-Plattformen in den USA müssen dieser Organisation verbotene Inhalte melden. „Seit 2018 sind die Fallzahlen deshalb sprunghaft gestiegen, 2019 um das Dreifache.“
In Deutschland ist der Besitz, das Herstellen und Verbreiten von solchen Aufnahmen verboten – ab 14 Jahren ist man strafmündig. „Wenn es ein jugendlicher Ersttäter ist, führen wir meistens ein erzieherisches Gespräch. Bei Mehrfachtätern können zum Beispiel schon mal Arbeitsstunden drohen“, sagt Schächer.
Einmal in der Welt sind Bilder kaum mehr einzufangen
Wenn ein Fall eines Schülers der Polizei bekannt wird, kommt auch seine Kollegin Cora Geiersbach von der Präventionsabteilung im Haus des Jugendrechts zum Einsatz: Sie besucht zeitnah die betroffenen Schulen. „Wir stellen aber niemanden bloß. Sondern ich spreche allgemein über das Thema, die Gefahren und rege mit Fragen das Gespräch an. Meistens erzählen die Kinder von selbst, was sie schon alles auf ihrem Handy gesehen haben“, erläutert die Polizeioberkommissarin. Sie passe jedoch auf, dass die Gespräche relativ an der Oberfläche bleiben, damit die Kinder nicht zu viel von sich erzählen. Im Zuge der Kampagne werden nun 16 Schulen besucht, um präventiv zu sensibilisieren.
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Wenn es aber einen Vorfall in einer Schule gab, führt Geiersbach gleich mit allen Klassen der Klassenstufe Gespräche. Denn ist ein Bild oder Video einmal in der Welt, ist es fast unmöglich, es wieder einzufangen. „Eltern und Kinder müssen unbedingt darauf achten, dass nicht alle erhaltenen Aufnahmen gleich auf dem Handy oder in der Cloud gespeichert werden. Auch müssen sie über die Einstellungen verhindern, dass man ungefragt in Chatgruppen hinzugefügt wird“, unterstreicht Geiersbach.
„Eltern haften für den Onlinezugang ihrer Kinder“
Einige wenige Schulen oder Klassen erlaubten erst gar nicht Klassenchats, sagt Günter Steppich, der Lehrer an der Gutenbergschule und Fachberater für Jugendmedienschutz ist. Zum Beispiel sei Whatsapp eigentlich auch erst ab 16 Jahren erlaubt. „Eltern haften für den Onlinezugang ihrer Kinder“, betont er. Leider gingen Eltern viel zu naiv mit dem Thema um und vertrauten ihren Kindern zu leicht. Er habe schon gehört, dass das Handy wie ein Tagebuch sei, in das man nicht reinschaue. „Mit dem Internet sind aber fünf Milliarden Menschen verbunden. Die ganze Welt ist im Kinderzimmer erreichbar.“ Die meisten Eltern wüssten ebenso nicht, welche Apps ihre Kinder nutzten. Zwar werde erwartet, dass Schulen die Kinder bilden. Doch viele Lehrer seien selbst überfordert, nur ganz wenige Schulen in Wiesbaden gingen das Thema aktiv an. „Aber die Hauptverantwortung liegt bei den Eltern. Zumal wir auch nicht in die Handys der Schüler schauen dürfen.“ Steppich hat erst vor Kurzem einen Elternbrief veröffentlicht, weil es wieder einen Fall in seiner Schule gab. Oft trauten sich Schüler, eher ihm etwas zu erzählen als den Eltern, weil sie befürchteten, dass ihnen das Handy weggenommen wird.
Um das zu verhindern, „müssen Eltern von Anfang an für einen offenen Austausch über das Thema sorgen“, erklärt Medienpädagogin Corinna Schaffranek. In ihrem Vortrag wird deutlich, wie viele verschiedene Online-Plattformen es mittlerweile gibt, die wie „TikTok“ – ein Kurzvideoportal aus China – schon bei Zehnjährigen beliebt sind. Die Inhalte seien zudem immer mehr sexualisiert, was die Kinder in ihrer Entwicklung präge. „Manche ertragen es auch nicht mehr, wie sie aussehen, sodass sie sich nur noch über einen Filter fotografieren.“ Der permanente Vergleich mit anderen übe großen Druck auf sie aus. Mit erwachsener Pornografie kämen laut Studien schon 14-Jährige zum ersten Mal in Kontakt, die Hälfte davon ungewollt. Auch das zeige, wie achtsam man mit Handys umgehen müsse. „Medienkompetenz ist eine Schlüsselkompetenz.“
Steppich rät den Eltern, nicht vor Regeln zu scheuen. „Seien sie halt mal der ‚dumme Papa’ oder die ‚dumme Mutter’.“ Das Kind werde es ihnen irgendwann danken.