Noch nie musste man so viel Geld für Lebensmittel hinlegen wie heute. Wir erklären, woher die Inflation kommt – und wie sie das Leben einer vierköpfigen Familie verändert.
OPPENHEIM. Familie Loos lebte nie im großen Luxus. Sie schmiss das Geld nicht zum Fenster raus, leistete sich selten Komfort, verschwenderisch war sie schon gar nicht. Natürlich, das Essen kaufte sie bewusst und überlegt – aber kaum überteuert, gar nobel. Es muss Herbst 2020 gewesen sein, als man im Hause der Oppenheimer Familie aber anfing, umzudenken. Nicht ohne Grund: Melanie Loos (51), Ehefrau und zweifache Mutter, hatte nach dem Wochenendeinkauf mal wieder den Kassenzettel studiert. Was ihr da ins Auge stach, gefiel ihr gar nicht. „Irgendwann haben wir gesehen, dass der Einkauf immer mal wieder 15, 20 Euro mehr kostete“, erinnert sie sich.
Für Essen muss man stetig mehr Geld hinlegen
Das lag nicht etwa daran, dass Loos immer öfter oder höher ins Supermarkt-Regal griff – sondern dass die gleichen Lebensmittel 30, 40 Cent teurer waren als ein paar Wochen zuvor. Manchmal sogar wenige Euro. Die Preise, sie kletterten schleichend in die Höhe. Egal, ob das jetzt die Milch war, das Gemüse, die Hühnchenbrust. Familie Loos – bürgerlicher Mittelstand, Haus mit Garten, zwei Autos – merkte: Die Kasse ist leerer als sonst. Alles wird teurer, Ausgaben ziehen an. Das sollte sich die nächste Zeit nicht ändern. Ganz im Gegenteil. Immer tiefer muss man in diesen Monaten fürs Essen in die Tasche greifen. Besonders im März 2022, aufgrund der Ukraine-Krise.
Loos, Pädagogin an einer Schule, erklärt heute:
Seitdem steuert sie öfter den Discounter an. Sie splittet die Einkäufe, vergleicht Preise, bestellt nur noch selten beim Italiener um die Ecke – und ja, sie packt eher mal das billigere Produkt in den Wagen. Früher war das anders. Es war unbeschwerter. Bequemer. Nur ein paar Cent pro Artikel, über einen ganzen Monat gesehen merkt man die mehr denn je. So manchen schmerzen sie auch. Denn nicht nur die vier Loos' aus Oppenheim spüren die Preis-Unwucht. Sie trifft alle. Jeden Verbraucher, jede Familie. Anne Markwardt, Leiterin des Teams Lebensmittel beim Bundesverband Verbraucherzentrale, erklärt: Gerade für Menschen „mit einem geringen Einkommen können die Preissteigerungen schnell zu einem Problem werden“. Weil die Haushaltskasse ohnehin klamm ist.
Haben die gestiegenen Preise Ihr Einkaufsverhalten beeinflusst? Stimmen Sie ab und positionieren Sie den Schieberegler.
Für wie viel Geld kauft eine vierköpfige Familie Lebensmittel ein?
In Wiesbaden sitzt das Statistische Bundesamt, die Sammelstelle aller Zahlen und Fakten für Deutschland und seine Bevölkerung. Die Datenbank der Bundesbehörde ist schier unerschöpflich – auch, wenn es um das Thema Lebensmittelpreise geht.
Essen, Strom, Kleidung: Die folgende Grafik veranschaulicht, für was eine vierköpfige Familie jeden Monat (Stand 2020) Geld ausgibt – und vor allem, wie viel im Durchschnitt. Schnell fällt auf: Lebensmittel bilden nicht den größten Ausgabeposten in der Haushaltskasse, aber einen erheblichen. Zwar stammen die Zahlen des Statistischen Bundesamts von 2020, (fast) alle Waren sind seitdem aber teurer geworden. Die Grafik soll lediglich die Ausgaben für Nahrung einordnen.
So weit zur gesamtdeutschen Statistik. Für uns hat sich Familie Loos an einen Tisch gesetzt und ihren Monatseinkauf kalkuliert. Was genau landet im Korb – wie viel kostet das? Wir haben die Supermarkt-Gänge abgeklappert und den Taschenrechner bemüht. Ergebnis: Im Monat März geben die Oppenheimer etwa
720 Euro
für sämtliche Lebensmittel (außer alkoholische Getränke) aus.
Was die zweifache Familienmutter alles aus den Regalen holt, wird in der folgenden Karte aufgelistet, gegliedert nach Produktgruppen. Klicken Sie für die einzelnen Kassenzettel auf die schwarzen Buttons mit den Einkaufswagen.
Wie wirken sich die Preissteigerungen auf den Geldbeutel der Familie aus?
„Früher war alles besser!“ Ältere Generationen haben das vor 30 Jahren schon knorrig am Stammtisch vor sich hingemurmelt – und sie tun es auch heute. Tatsächlich könnte man die Aussage mittlerweile auf die Preise schieben: Wer an der Ladenkasse oder an der Zapfsäule das Portemonnaie zückt, der quittiert die Rechnung oft nur noch mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Hier ein paar Cent mehr, dort ein paar – über die Monate betrachtet, ist das für viele kaum wahrzunehmen. Welche Lücke sie aber über Jahre in die privaten Kassen reißt, wird deutlich durch eine einfache Beispiel-Rechnung.
Der große Vergleich: Was hätte Familie Loos für die gleichen Produkte ihres Monatseinkaufs noch 2021 oder 2019 hingelegt? Klicken Sie für die Beträge auf die Karte.
Der Warenkorb kostete Melanie Loos im Februar 2019 knapp 100 Euro weniger. Auf das Jahr gerechnet wäre das am Ende ein gewaltiger Batzen von 1200 Euro, die nur die Lebensmittel heute mehr kosten würden. Man müsste schon zu den Besserverdienern gehören, damit einem dieser Preis-Schock nicht wehtut. „Noch haben wir einen Puffer“, sagt die Mutter. „Wo wir aber schrauben können, tun wir das. Man muss grundsätzlich auf die Kasse schauen.“ Und das ist nicht erst seit 2022 so.
Seit Jahren treibt die Inflation die Warenpreise für Essen und Trinken nach oben – hier mal mehr, dort mal weniger. Wie haben sich die Ausgaben für den Verbraucher verändert? Die folgenden Grafiken behandeln zwei Zeiträume: einmal die Jahre ab 2015 und einmal, zur Einordnung, die Jahre ab 1991. Wählen Sie unter Produktgruppe aus, was in den vergangenen Jahren um wie viel Prozent teurer geworden ist. Klicken Sie sich durch.
Was diese Erhöhung der Preise, heruntergebrochen auf den monatlichen Kassenzettel, für Familie Loos bedeutet, sehen Sie auf den folgenden Listen.
Inflation in Deutschland: Was heißt das eigentlich – und was bedeutet sie für die Verbraucher?
Ein Nachmittag vergangene Woche, ein Supermarkt in Rheinhessen. An den Regalen fummeln Mitarbeiter herum, sie tauschen die Preisschilder hinter den Plastikhalterungen. Eines nach dem anderen. Milch, Nudeln, Gemüse, Öl, Fleisch – die Euro-Preise schießen in die Höhe. In diesen März-Tagen so stark wie nie zuvor. Warum das so ist? Wegen der Inflation, einer eigentlich ganz gewöhnlichen Entwicklung innerhalb einer Ökonomie. Einer Entwicklung aber, durch die Verbraucher im Moment an den Supermarktkassen den oft erwähnten Preis-Schock erleben.
Melanie Loos, die Familienmutter aus dem rheinhessischen Oppenheim, sagt dazu:
Ganz einfach ausgedrückt heißt Inflation: Waren und Dienstleistungen verteuern sich über einen längeren Zeitraum. Auch die Lebensmittel. Im Februar lag die Inflationsrate bei 5,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Wer im Februar 2021 seinen Korb also mit Waren im Wert von 100 Euro gefüllt hat, musste letzten Monat für die gleichen Produkte im Schnitt 5,10 Euro mehr auf den Tisch legen. Steigt die Inflation besonders stark, führt das zu einer sogenannten Preisspirale. Der Verbraucher kriegt weniger für sein Geld – vielleicht muss er sogar seinen Lebensstandard herunterschrauben.
So entwickelt sich die Inflationsrate
Vor allem trifft das ärmere Menschen, die ohnehin am Existenzminimum leben. Hier heißt es: teurere Ware, weniger Ware. Für viele wird der Supermarktbesuch deshalb zur Qual. Sie stehen vor der Entscheidung: Was packe ich mir heute in den Wagen? Und auf was verzichte ich lieber, um das Konto zu schonen?
Explodierende Preise, teure Produkte – wie stark ist die Inflationsrate in Deutschland in den vergangenen Jahren (und Monaten) gestiegen? Das zeigen die folgenden Grafiken. Klicken Sie sich durch.
An diesem Mittwoch stellt das Münchner ifo-Institut für Wirtschaftsforschung seine Marktprognose für den Monat März vor. Samt der Auswirkungen der Inflation. Wie der Konjunkturchef, Prof. Dr. Timo Wollmershäuser, dieser Zeitung im Voraus berichtet, steige die Inflationsrate für Lebensmittel auf etwa sechs Prozent – und die für Energie auf fast 30. Das ist höher als je zuvor.
Sein Team, erklärt Wollmershäuser, gehe von zwei Szenarien aus:
Warum steigen die Lebensmittelpreise gerade im Moment so stark?
Wie bei so vielen Entwicklungen gibt es nicht den einen Grund, weshalb die Ökonomie derart im Wandel ist. Eher entspringen die Veränderungen einem dynamischen Prozess, einer Wechselwirkung mehrerer Faktoren – politischer als auch wirtschaftlicher. Dass sich Lebensmittel so rapide verteuern, die Inflationsrate also steigt, ist auf zwei Ursachen zurückzuführen: erstens die Energiepreise und zweitens, eng daran geknüpft, die Betriebskosten der Landwirtschaft.
Bernhard Krüsken ist Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands (DBV). Er sieht und hört täglich, mit welchen zusätzlichen Euro-Beträgen die Bauern gerade zu kämpfen haben – und wie sich diese auf die Supermarkt-Preise niederschlagen. Auf Anfrage dieser Zeitung betont Krüsken:
In den letzten Jahren, so der DBV-Generalsekretär, seien Lebensmittel eher „eine Inflationsbremse“ gewesen. Durch explodierende Preisen in anderen Branchen aber müsse die Landwirtschaft nachziehen. Und genau hier gelangt man an den Punkt, an dem sich sämtliche Betriebskosten gegenseitig befeuern – verschärft durch einen Zustand, der in diesen Tagen die Antwort auf so vieles ist: Putins Krieg in der Ukraine.
Landwirte nutzen russischen Kunststoffdünger
Seit Jahren schießen die Preise für Strom, Gas oder Öl nach oben. Seit Kriegsausbruch haben sie schwindelerregende Höhen erreicht, noch nie war Energie so teuer. „Die deutlich gestiegenen Kosten haben auch die landwirtschaftliche Produktion, vor allem aber den Transport und die Logistik verteuert“, sagt Anne Markwardt vom Bundesverband Verbraucherzentrale. Nächstes Problem: der von den meisten deutschen Landwirten eingesetzte Kunststoffdünger. Er wird aus Erdgas hergestellt. Und zwar vor allem in Russland, mit russischen Rohstoffen. Krüsken betont: „Der Krieg hat die Gas- und Energiepreise regelrecht explodieren lassen; das wirkt sich massiv auf alle Vorleistungen und Betriebsmittel aus.“ Und auf die Preise im Supermarkt.
Im März sind die Kosten für Energie durch den Krieg auf ein Rekordhoch gestiegen. Um wie viel Prozent sie im Vergleich zum Vorjahresmonat geklettert sind, lässt sich heute noch nicht verlässlich sagen. Aber: Bereits im Februar, das zeigen die folgenden Diagramme, war für Verbraucher die Zeche für Strom, Gas, Öl und Co. höher als je zuvor. Klicken Sie sich durch.
Die Krise treibt die Kosten. Sie verschärft für viele Familien die finanzielle Situation, bis hin zur Schieflage. Krüsken spricht bei den Erzeugerpreisen von „Nachholbedarf“, Ifo-Konjunkturchef Wollmershäuser von „massiven Sprüngen“ – auch, was die Nahrungsmittelversorgung betrifft: „Russland und die Ukraine bieten für uns einen wichtigen Markt für Weizen und Sonnenblumenöl, die Regale bei uns sind teilweise schon leer. Wenn es beim Kriegsfall bleibt, könnte es damit im Sommer wirklich knapp werden. Im Supermarkt merkt man das heute schon.“ Laut Schätzungen werden im Zuge der Kriegsfolgen insgesamt sieben Millionen Tonnen weniger Weizen exportiert.
Während die Erzeugerpreise der Bauern in den Vorjahren noch moderat gestiegen sind, eskalierten sie 2022 nahezu, wie die nächsten Grafiken vorführen. Gründe sind ausufernde Energiekosten, eine teurere Produktion der Landwirtschaft sowie die Ukraine-Krise. Klicken Sie sich durch.
Weitere Hintergründe für verteuerte Lebensmittel sind: schlechte Ernten, ein Wassermangel aufgrund des Klimawandels und Preisanstiege beim Futtermittel, zählt Anne Markwardt vom Bundesverband Verbraucherzentrale auf. Außerdem die anhaltende Corona-Krise und Probleme in globalen Lieferketten. Das alles führt dazu, dass der Kunde mehr Geld an der Kasse lassen muss.
Glauben Sie, dass wir das Ende der Preissteigerung für Nahrungsmittel erreicht haben? Oder geht es so weiter? Stimmen Sie ab und positionieren Sie den Schieberegler.
Mit was müssen Kunden im Supermarkt künftig noch rechnen?
Die Frage aller Fragen. Am Ende wird die Antwort aber nur an einem Umstand hängen: Sind die hohen Inflationsraten dieser Monate nur ein temporäres Phänomen? Oder bleiben sie auf diesem Niveau? Niemand weiß es. Darauf haben selbst die Experten keine Antwort. Denn zu viel hängt vom Fortgang von Putins Krieg in der Ukraine ab, auf dem globalen Markt von der Rolle Russlands – einem der wichtigsten Energielieferanten der Deutschen. Im Lebensmittel-Sektor bedeutet das ganz einfach: Die Regal-Preise sind abhängig von den Erzeuger-, diese wiederum von Energie- und Kraftstoffkosten. „Und die werden kurzfristig sicher nicht sinken“, sagt Bernhard Krüsken vom Deutschen Bauernverband. Alle Landwirte stünden unter Druck.
Auf diese Entwicklungen hat Familie Loos aus Oppenheim früh reagiert, im Herbst 2020 schon. Melanie, die Mutter, achtet beim Einkauf seitdem mehr auf den Preis – dabei weiß sie, dass es ihrem Haushalt vergleichsweise gut geht. Andere Familien geben Hunderte von Euro weniger für Lebensmittel aus. Weil sie nicht anders können. Weil sie jeden Euro zweimal umdrehen müssen. Weil sie schlichtweg ärmer sind. Loos meint:
Da bleibe auch mal das Körbchen Erdbeeren im Regal. Oder die Mango in der Kiste.
Viele Familien in prekären Verhältnissen schiebt die Inflation, ob bei Energie oder Lebensmitteln, an die Grenze des Machbaren. Sie stehen kurz davor, nicht mehr zahlen zu können. Der Bundesverband Verbraucherzentrale fordert daher einen Heizkostenzuschuss für Geringverdiener sowie einen Familienbonus von jeweils 1000 Euro, außerdem die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse – „um allen Verbraucher:innen eine gesunde Ernährung zu erleichtern“, schildert Anne Markwardt, Leitung im Team Lebensmittel. Weitere Ansätze hat der Verband präsentiert, sie zielen auf eine Erleichterung bei den Energiekosten.
In diesem Jahr könnten noch so viele Entlastungen seitens der Politik kommen, die Menschen könnten noch so viel sparen, die Heizung abdrehen, das Auto stehen lassen oder ganz unten ins Regal greifen. Eines steht dennoch fest, sagt Timo Wollmershäuser, Konjunkturchef des ifo-Instituts:
Auch bei den Lebensmitteln. Die Preise für Nahrung sind im Februar um 5,3 Prozent gestiegen. Dass es nicht noch mehr war, fußt auf einem simplen Grund: Die Zettel, mit denen Supermärkte für Sonderangebote werben, werden mit einem Vorlauf von drei bis sechs Wochen gedruckt. Nächstes Mal ist das anders. Bald kommen die Zahlen für März – dem sehr wahrscheinlich teuersten Monat aller Zeiten.