Die Teilnehmenden der Führung über den jüdischen Friedhof Hochheim mit Ellen Umstätter-Speth (rechts).
(Foto: Dietmar Elsner)
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
HOCHHEIM - Die Besucher der Führung hatten Glück. Erst kurz vor Beginn hörte der kräftige Regen auf. Nur noch wenige Tropfen fielen von den Bäumen auf den jüdischen Friedhof Hochheims herab. Stadtführerin Ellen Umstätter-Speth hatte das eiserne Tor aufgeschlossen, ein seltener Anblick. Sie begrüßte die Gäste mit dem hebräischen Gruß „Shalom aleichem“, also „Friede sei mit Euch“.
Gleich zu Beginn erklärte sie ihr persönliches Interesse für das Judentum und den jüdischen Friedhof in Hochheim. Sie trug eine Kippa auf dem Haar, als Zeichen ihrer Solidarität, aber auch ihrer Emanzipierung. Sie berichtete von ihrer Geburt 1948 in einem jüdischen Haus, aus dem die Besitzer vertrieben worden waren. Ihre Eltern hatten sie schon als Kind 1961 den Eichmann-Prozess verfolgen lassen, ihr Bruder hatte eine Halbjüdin geheiratet. Sie lernte etliche jüdische Glaubensrituale kennen, besucht aber auch regelmäßig zur persönlichen Einkehr und Stille das Kloster Gnadental. Auch jetzt wohnt sie in Hochheim wieder in einem jüdischen Haus. In der Friedrich-Ebert-Straße mit Stolpersteinen im Pflaster vor der Haustüre.
Ellen Umstätter-Speth bat die Besucher, über ihre Motive für diese Führung zu sprechen. Es war Interesse an der Geschichte, an den Schicksalen der Hochheimer Bürger jüdischen Glaubens, Neugierde, welche Geheimnisse dieser ständig verschlossene Ort birgt, aber auch Erinnerungen an eigene jüdische Verwandte, auch mit KZ-Erfahrung. Oder es waren Bilder aus der eigenen Kindheit, in der sie vor dem Tor standen und auf den mystischen Ort mit seiner unheimlichen Aura schauten, mit den damals noch unordentlich umherliegenden und beschädigten Grabsteinen. Manchmal war es auch Interesse an den im Buch „Juden in Hochheim“ von Franz Luschberger beschriebenen oft tragischen Schicksalen von Menschen jüdischen Glaubens.
Aufgrund der großen Nachfrage die zweite Führung
Anlass der aktuellen Führungen ist das von Bundespräsident Walter Steinmeier eröffnete Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Kaiser Konstantin hatte im Jahr 321 den Juden Ämter in der Stadtverwaltung genehmigt. Das Judentum blieb jedoch trotz seiner weltweiten Verbreitung mit 15 Millionen Gläubigen eine eher kleine in sich geschlossene Glaubensgemeinschaft.
Die israelische Kultusgemeinde erwarb um 1909 das nur 790 Quadratmeter große Gelände. Vor allem die großzügigen Spenden von Sigmund Aschrott (Weingutsbesitzer, Kommerzienrat, Inhaber des Bankhauses Aschrott) ermöglichten 1870 den Bau der Synagoge in der Rathausstraße 29 und ab 1909 die Anlage des Judenfriedhofes. 1912 fand die erste Beerdigung statt. Vorher wurden die Hochheimer Juden in Flörsheim oder in Mainz bestattet.
Jüdische Begräbnisordnung wurde missachtet
1938 verwüsteten die Nazis nach der Pogromnacht den Friedhof. Alles Jüdische in Hochheim wurde zerstört, die Synagoge, viele Geschäfte. Da 1944 entsprechend den damaligen staatlichen Anordnungen Kriegsgefangene und Fremdarbeiter nicht auf dem allgemeinen Friedhof beigesetzt werden durften, bestattete man sie auf dem jüdischen Friedhof, obwohl dort laut jüdischer Begräbnisordnung nur Juden beerdigt werden dürfen.
Heute trägt die Stadtverwaltung die Verantwortung für den Friedhof, lässt den Rasen mähen, die Hecken schneiden und das Tor abschließen. Interessanterweise verpflichtete Bürgermeister Hans Wagner bereits 1946 die bekannten Nazigrößen Hochheims, den Friedhof wieder herzurichten. Eine Besucherin erzählte allerdings, dass er noch in den 1970er Jahren wild aussah und beschädigte Grabsteine hinten in der Ecke auf einem Haufen lagen.
Das Gräberfeld macht heute einen aufgeräumten Eindruck. In Abstimmung mit dem Landesrabbiner Prof. Dr. Roth wurde der Friedhof um 1985 neu gestaltet, Gräber wurden gepflegt, Grabinschriften erneuert, Gedenktafeln am Friedhofseingang und an der ehemaligen Synagoge angebracht. Links vom Eingang stellte man einen Gedenkstein für die dort beerdigten Verstorbenen, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter sowie sechs Säuglinge. Ihre Holzkreuze waren inzwischen morsch, der Bereich wurde mit einer Hecke abgegrenzt und darf nicht betreten werden.
Die Stadtführerin berichtete mehr als eine Stunde lang vom Leben und Sterben Menschen jüdischen Glaubens allgemein und in Hochheim. Also von den Judenvierteln in den Gemeinden, von der ersten Synagoge im Woigiggel, vom ersten jüdischen Friedhof vor dem Mainzer Tor, von der Kleiderordnung, der Kopfbedeckung, dem verpflichtenden Zusammenhalt der Familien und ihres Vermögens, von Schutzbriefen, sowie dem Wahlrecht und der freien Berufsausübung nach der Französischen Revolution.
Der besondere Platz der Grabstätten
Jüdische Friedhöfe liegen immer außerhalb der Stadt. Sie sind ein Ort der Ewigkeit, kein Park zum Spazieren gehen. Nach jüdischer Begräbnisordnung muss das Gräberfeld rein, koscher sein, also noch nie bebaut oder bearbeitet, kein unschuldiges Blut durfte dort geflossen sein. Das Grab bleibt für immer Eigentum des Verstorbenen, darf weder verändert noch erneut genutzt werden.
Vielfältige Rituale rund um den Tod
Ellen Umstätter-Speth erläuterte den nachdenklich an den Grabsteinen stehenden Besucher auch die vielfältigen Rituale rund um den Tod eines gläubigen Juden. Es gibt Sterbebegleiter im Sinne des Glaubens, ein Totenlicht am Fußende des Verblichenen, mit weißen Tüchern verhängte Spiegel. Das Totenhemd sollte der Verstorbene bereits regelmäßig an hohen Feiertagen, wie dem Jom Kippur, getragen haben. Im einfachen Holzsarg wird Erde aus Israel unter den Kopf des Verstorbenen gelegt, darüber ein Tuch mit dem Davidstern. Es gibt keine Verbrennungen, keine Urnen, keine Asche. Die Trauerzeit beträgt sieben Tage, in denen die nahen Angehörigen im Haus bleiben sollen. Das Grab darf erst nach 30 Tagen wieder besucht werden. Nur am Jahrestag wird ein Lichtchen angezündet. Der Brauch, einen Stein ans Grab zu legen, stammt aus der antiken Bestattungskultur der nahöstlichen Grabhöhlen.
Als Abschluss der hochinteressanten Führung spielte Ellen Umstätter-Speth vom Smartphone den mit einem Oscar und einen Grammy ausgezeichneten Soundtrack zum Holocaust-Drama „Schindlers Liste“.