Cohn-Bendit: Frankreich droht weiter ein politisches Beben

Der deutsch-französische Politiker und Publizist Daniel Cohn-Bendit.  Archivfoto: dpa/Franz Nemayr
© Archivfoto: dpa/Franz Nemayr

Trotz des Macron-Triumphes mahnt der deutsch-französische Politiker Daniel Cohn-Bendit: Die Parlamentswahlen im Juni könnten Frankreich vor massive Probleme stellen.

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MAINZ/PARIS. Nach der Wiederwahl Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten sieht Daniel Cohn-Bendit (77) die grundsätzliche Gefahr für das politische System in Frankreich und die europäische Ordnung noch nicht gebannt. In einem Interview mit dieser Zeitung sagt der deutsch-französische Politiker und Publizist: „Es ist noch nicht entschieden, wie Frankreich nach dem Ergebnis der beiden Präsidentschaftswahlgänge regiert werden kann.“

Bei den französischen Parlamentswahlen in Juni könne eine Situation entstehen, die doch noch einem politischen Erdbeben gleich käme. Trotz des französischen Mehrheitswahlrechts sei es möglich, dass erstmals in der Geschichte der Fünften Republik keine einzelne Partei eine Parlamentsmehrheit erringe. Macrons liberale Bewegung En Marche habe nach seiner Wiederwahl zwar das Zeug, stärkste Fraktion zu werden.

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Marine Le Pen können es aber ebenso gelingen, mit ihrer Partei Rassemblement National eine große Zahl an Stimmbezirken zu gewinnen wie dem radikalen Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon mit seiner Bewegung La France insoumise. Mélenchon hatte im ersten Präsidentschaftswahlgang 21,7 Prozent der Stimmen erreicht. „Das wäre eine Situation, die Frankreich noch nicht erlebt hat“, sagte Cohn-Bendit. Wenn keine Partei oder Bewegung eine Mehrheit erhalte, unterscheide sich das wesentlich von der sogenannten Kohabitation, bei der ein Präsident mit der Parlamentsmehrheit einer einzigen anderen Partei regieren müsse. Es gebe im präsidialen System Frankreichs keine politische Kultur der Verhandlung und des Kompromisses. „Der Begriff Kompromiss ist in Frankreich kompromittiert“, sagte der Grünen-Politiker, der in der Vergangenheit abwechselnd beide Länder im Europäischen Parlament vertreten hatte.

Cohn-Bendit empfiehlt Wahlrechtreform

Cohn-Bendit empfahl dem wiedergewählten Staatspräsidenten Macron noch vor den Parlamentswahlen im Juni, eine institutionelle Reform des französischen Wahlrechts zu entwickeln, „die der politischen Wirklichkeit in Frankreich gerecht wird“. Es könne nicht sein, dass so starke Bewegungen wie Le Pens Rassemblement National und Mélenchons radikale Linke nicht angemessen im politischen System repräsentiert würden: „Das hält auf Dauer keine Demokratie aus“, sagte Cohn-Bendit. Der Sieg eines Populisten bei den Präsidentschaftswahlen wäre dann nur noch eine Frage der Zeit.

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Die deutsche Bundesregierung forderte Cohn-Bendit in dem Interview auf, ihre Schuldenpolitik auf europäischer Ebene zu lockern. Nach der Corona-Krise müsse die EU auch die Folgen des Ukraine-Krieges mit einem umfangreichen Kreditprogramm auffangen. Zusätzliche Schuldenaufnahmen dürften sich nicht auf die Verteidigungsfähigkeit Europas beschränken. Hier müsse sich Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) ebenso bewegen wie Bundeskanzler Scholz (SPD). Dabei gehe es weniger darum, dem französischen Präsidenten Macron zur Seite zu springen: „Es geht darum, Europa und damit Deutschland selbst zu helfen“, sagte Cohn-Bendit.