Ist wirklich gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen?

In diesem Gebäude in Amsterdam residiert die Europäische Arzneimittelagentur mit ihren 730 Mitarbeitern. Foto: dpa
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Pandemie: Bei der Europäischen Arzneimittelagentur in Amsterdam muss die Zulassung von Mitteln beantragt werden, die im Kampf gegen das Coronavirus zum Sieg verhelfen sollen.

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. Amsterdam/Mainz/WiesbadenAuf der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) ruhen die Hoffnungen, dass in Europa baldmöglichst ein Impfstoff gegen das Coronavirus auf den Markt kommt, wahlweise eine Therapie, die gegen Covid-19 hilft. Denn die EMA, die in Amsterdam residiert, bereitet in der Europäischen Union die Zulassung von Medikamenten vor, die letztlich von der Europäischen Kommission erteilt wird. Die Agentur hat einige der drängendsten Fragen zur Corona-Pandemie beantwortet.

Bisher hat die Welt vergeblich nach einem Impfstoff gegen Sars und Mers gesucht - beides Krankheiten, die durch ein Coronavirus verursacht werden. Wie wahrscheinlich ist es, dass es jemals einen Impfstoff geben wird, der vor Covid-19 schützt?

Derzeit wird intensiv geforscht, um einen solchen Impfstoff zu finden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO nennt 70 Aspiranten für Impfstoffe, von denen sich drei bereits in der klinischen Entwicklung befinden. Die EMA hat alle Firmen und Institutionen, die Medikamente oder Impfstoffe gegen Covid-19 entwickeln, Anfang Februar aufgefordert, ihre Forschungspläne mit der Agentur zu besprechen. Bisher haben wir Gespräche mit Unternehmen geführt, die rund ein Dutzend potenzieller Covid-19-Impfstoffe entwickeln. Allerdings ist es schwer zu prognostizieren, wie viel Zeit für die Entwicklung von Arzneimitteln und Impfstoffen am Ende benötigt wird. Auf Basis unserer Erfahrungen und der uns vorliegenden Informationen schätzen wir, dass es zehn bis 15 Monate dauern kann, bis ein Impfstoff zugelassen und in ausreichenden Mengen verfügbar ist. Wie viele Dosen gebraucht werden, um den Bedarf aller EU-Länder zu decken, muss noch ermittelt werden.

Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass zuerst ein Arzneimittel entwickelt wird?

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Die Situation mit Therapeutika ist in der Tat anders. Zwar gibt es sowohl neue als auch bereits zugelassene Medikamente, die bei der Behandlung von Covid-19-Patienten eingesetzt werden sollen. Doch gibt es nach den Daten, die der EMA bislang vorliegen, noch kein Arzneimittel, das bei der Behandlung von Covid-19 wirksam ist. Zu den bereits zugelassenen Medikamenten, die derzeit in klinischen Studien auf ihre Wirksamkeit bei Covid-19 getestet werden, gehören: Remdesivir, Lopinavir / Ritonavir (derzeit als Anti-HIV-Arzneimittel zugelassen), Chloroquin und Hydroxychloroquin (derzeit auf nationaler Ebene zur Behandlung von Malaria und bestimmten Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis zugelassen), Systemische Interferone und insbesondere Interferon Beta (derzeit zur Behandlung von Krankheiten wie Multipler Sklerose zugelassen), Monoklonale Antikörper mit Aktivität gegen Komponenten des Immunsystems.

Die Food and Drug Administration (FDA), das Gegenstück zur EMA in den USA, hat Chloroquin als Behandlung für Covid-19-Patienten zugelassen. Warum kann der Wirkstoff nicht auch in Europa angewendet werden?

Chloroquin und Hydroxychloroquin werden derzeit weltweit auf ihr Potenzial zur Behandlung von Covid-19 untersucht. Ihre Wirksamkeit bei der Behandlung dieser Krankheit muss allerdings erst noch in Studien nachgewiesen werden. Und: Selbst in den USA hat die FDA Chloroquin und Hydroxychloroquin nur zur Therapie von Patienten mit schweren Formen von Covid-19 zugelassen. Beide Mittel können schwerwiegende Nebenwirkungen haben, insbesondere bei hohen Dosen oder in Kombination mit anderen Arzneimitteln. Sie dürfen nicht ohne Rezept und ohne ärztliche Aufsicht angewendet werden. Derzeit laufen klinische Studien, um die Wirksamkeit und Sicherheit beider Wirkstoffe bei der Behandlung von Covid-19 zu erforschen. Die EMA begrüßt diese Studien. Im Übrigen sind Chloroquin und Hydroxychloroquin wichtige Arzneimittel für Patienten mit Autoimmunerkrankungen. Diese Patienten dürfen keinen Engpässen ausgesetzt sein, die unter anderem durch Bevorratung oder Verwendung außerhalb der zugelassenen Indikationen verursacht werden.

Wie viel Zeit benötigt die EMA durchschnittlich, um ein neues Medikament zuzulassen?

Gemäß der EU-Pharmagesetzgebung hat die EMA maximal 210 Tage Zeit für die Bewertung eines Arzneimittels. Diese Zeitspanne kann in einer Notsituation verkürzt werden. Die flexible und schnelle Überprüfung von Arzneimitteln wird von der Pandemie-Task Force der EMA unterstützt, die mithilfe des Fachwissens aus allen EU-Mitgliedsstaaten eine schnelle und koordinierte Reaktion auf die Pandemie gewährleistet.

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In Deutschland hat das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte die Behandlung von schwerkranken Covid-19-Patienten mit dem noch nicht zugelassenen Remdesivir genehmigt. Der Wirkstoff wurde ursprünglich zur Behandlung von Ebola-Patienten entwickelt. Ist der Einsatz nicht zugelassener Medizin mit ethischen Grundsätzen vereinbar?

Es gibt Programme, die auf der Ebene einzelner EU-Mitgliedstaaten initiiert werden. Sie sollen Patienten mit einer lebensbedrohlichen und lang anhaltenden Krankheit, für die keine Behandlungsoptionen verfügbar sind, den Zugang zu Therapien mit noch nicht zugelassenen Medikamenten ermöglichen. Am 2. April hat die EMA erläutert, unter welchen Voraussetzungen Patienten mit Covid-19 frühzeitig Zugang zu Remdesivir bekommen können. Dies erfolgte auf Anfragen Estlands, Griechenlands und der Niederlande. Die Empfehlungen der EMA richten sich an EU-Mitgliedstaaten, die die Einrichtung eines vergleichbaren Programms in Betracht ziehen.

In der EU wird damit gerechnet, dass es bei der Versorgung mit kritischen Arzneimitteln zu Engpässen kommt. In diesem Zusammenhang werden unter anderem Anästhetika und Antibiotika erwähnt.

Die Verfügbarkeit von Arzneimitteln insbesondere für Patienten mit Covid-19 ist in der Pandemie für die EMA von entscheidender Bedeutung. Die EU-Behörden ergreifen daher zusätzliche Maßnahmen, um die Auswirkungen der Pandemie auf die Lieferketten von Arzneimitteln zu mildern. Diese Arbeit wird von einer Lenkungsgruppe der EU geleitet, die die Maßnahmen gegen Engpässe bei der Arzneimittelversorgung in der Corona-Krise koordiniert.

Wie groß ist aktuell in der Corona-Pandemie der Druck, ein neues Produkt schnell zu genehmigen, vielleicht sogar durch Absenken üblicher Qualitätsstandards?

Die Zulassung eines Arzneimittels oder Impfstoffs ist das Ergebnis einer gründlichen Nutzen-Risiko-Bewertung, bei der Aspekte der öffentlichen Gesundheit in der EU berücksichtigt werden müssen. Dies erfordert die Sammlung und Analyse belastbarer Daten, auf die das EMA-Komitee für Humanarzneimittel großen Wert legt, um beurteilen zu können, welche Präparate oder zweckentfremdeten Arzneimittel für die Behandlung von Covid-19 sicher und wirksam sind. Der Ausschuss fordert die EU-Forschungsgemeinschaft daher nachdrücklich auf, insbesondere solche Studien zu unterstützen, die die schlüssige Datengrundlage liefern, die für eine rasche Entwicklung und Zulassung potenzieller Therapien von Covid-19 erforderlich sind. Gleiches gilt auch für Impfstoffe, die auch nur aufgrund belastbarer klinischer Studien zugelassen werden können.

Von Christoph Cuntz