
Ernährungsminister Cem Özdemir setzt im Kampf gegen Übergewicht bei jungen Menschen auf ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel. Dafür erntet er Zustimmung und Widerspruch.
Mainz/Berlin. Die Zahlen sind beunruhigend: Fast jedes sechste Kind in Deutschland ist übergewichtig oder gar fettleibig. Zu wenig Sport, zu viel Süßes und Fettes sind die Ursachen. Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) will dagegen etwas tun. Sein Rezept: Keine Werbung mehr für Schokoriegel, Chips und Cola in Kindernähe. Das von ihm auf den Weg gebrachte Kinder-Lebensmittel-Werbungsgesetz (KLWG) ist allerdings kein Selbstläufer. Nicht nur in der Wirtschaft stößt es auf Ablehnung. In der Ampel-Koalition wird die Initiative von der FDP blockiert. Der zentrale Vorwurf: Özdemir schieße weit übers Ziel hinaus, weil sein Gesetz einem kompletten Werbeverbot für Lebensmittel nahekommen würde.
Wie groß ist das Problem der Übergewichtigkeit bei Kindern?
Ziemlich groß. Studien zeigen, dass rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig sind, knapp sechs Prozent gelten als adipös. Mit der Corona-Pandemie hat sich der Trend wohl noch verstärkt. Betroffen sind 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche. Wichtig: In der Kindheit werden über die eingeübten Essgewohnheiten die Grundlagen für spätere Gesundheit gelegt. Nach einer an der Berliner Charité erstellten Studie werden bis zu 80 Prozent der übergewichtigen Kinder ihre Extra-Pfunde im Erwachsenenalter nicht mehr los.
Was plant Minister Özdemir?
Kern seines Gesetzentwurfs ist ein Werbeverbot für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt in Fernsehen, Hörfunk und Internet. Dabei stammen die Kriterien, was als ungesund gilt, von der Weltgesundheitsorganisation WHO. Gelten soll das Werbeverbot montags bis freitags von 17 bis 22 Uhr, an Samstagen zusätzlich von 8 bis 11 Uhr und sonntags von 8 bis 22 Uhr. Das ist schon die abgeschwächte Version – im ersten Referentenentwurf war ein tägliches Werbeverbot von 6 bis 23 Uhr vorgesehen. Die Beschränkungen sollen auch für Plakatwerbung und teilweise für Sport-Sponsoring gelten.
„Kinder sind das Wertvollste, was wir haben – sie zu schützen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und auch die Verantwortung des Staates“, begründet Özdemir seinen Vorstoß. Neben ausreichend Bewegung und entsprechenden Angeboten brauche es eine möglichst gesunde Ernährungsumgebung – „dafür sind klare Regeln unumgänglich“. Die Hoffnung ist: Sehen Kinder weniger Werbung für süße Snacks und salzige Chips, haben es Mütter und Väter leichter, ihren Nachwuchs von Dickmachern fernzuhalten.
Kinder sind das Wertvollste, was wir haben – sie zu schützen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und auch die Verantwortung des Staates.
Auf welcher Grundlage wurde der Gesetzentwurf erarbeitet?
Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP steht auf Seite 45: „An Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt darf es in Zukunft bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige nicht mehr geben.“ Aus Koalitionskreisen ist zu hören, dass um diese Formulierung lange gerungen wurde, das Thema sei ein Herzensanliegen der Grünen. Auch bei großzügiger Auslegung des Satzes ist jedoch nur von einem Werbeverbot rund um Sendungen und Medienformate die Rede, die sich an Kinder richten. Warum dann ein Verbot bis 22 Uhr, also zur TV-Prime-Time? „Die Lebenswirklichkeit zeigt uns, dass Kinder nicht nur Kindersendungen auf Kindersendern schauen“, sagt Özdemir.
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In welchem Umfang wäre Werbung für Lebensmittel untersagt?
Nach Angaben der Werbewirtschaft wären rund 70 Prozent der heute geschalteten Werbung für Lebensmittel nicht mehr möglich. Das Ministerium erklärt, ein „Praxistest“ mit 660 Produkten habe ergeben, dass 38 Prozent der Lebensmittel weiter beworben werden dürften. Um auf diese Quote zu kommen, hat Özdemir die strengen WHO-Kriterien an einigen Stellen aufgeweicht, zum Beispiel bei Milchprodukten. Ansonsten wären nur 20 Prozent der Lebensmittel „clean“. Darüber hinaus setzt das Ministerium „auf die Bereitschaft der Lebensmittelwirtschaft, Rezepturen zu verbessern“. Sprich: Die Hersteller sollen durch das Werbeverbot ermuntert werden, ihre Produkte so zu verändern, dass sie weiter beworben werden können. Kritiker sehen darin einen Rückfall in alte grüne Volkserziehungsfantasien.
Auf jeden Fall geht es um viel Geld. Die Lebensmittelindustrie gehört zu den großen Branchen und für die Werbewirtschaft zu den wichtigsten Kunden. 2021 wurde in Deutschland allein für Süßwarenwerbung über eine Milliarde Euro ausgegeben.
Macht Werbung für Süßes und Fettes Kinder wirklich dick?
Das ist umstritten. Das Ernährungsministerium verweist darauf, dass Kinder in TV und Internet heute im Schnitt täglich 15 Werbespots und -einblendungen für ungesunde Lebensmittel zu sehen bekommen. Mehr als 90 Prozent davon sei Werbung für Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten.
Doch gibt es keinen klaren Beweis, dass diese Werbung Kinder dick macht. Werbeindustrie und Lebensmittelproduzenten bestreiten diesen Zusammenhang deshalb auch vehement. Das Ministerium räumt selbst ein, dass ein wissenschaftlicher Nachweis „schwierig“ sei. Dennoch würden Studien „günstige Effekte von Werbeverboten für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt im Sinne einer ausgewogeneren Ernährung von Kindern und Jugendlichen zeigen“. Unstrittig dürfte sein, dass die Spots den Konsum der Produkte ankurbeln.
Was sagen die anderen Ampel-Parteien zum Gesetzentwurf?
Die FDP hat frühzeitig massive Bedenken geäußert. In der Bundestagsfraktion wird betont, dass man ein Werbeverbot grundsätzlich mittrage, es müsse sich aber auf den im Koalitionsvertrag vereinbarten Rahmen beschränken. Es wird aber auch infrage gestellt, ob ein Werbeverbot überhaupt das richtige Mittel im Kampf gegen Übergewicht bei Kindern ist. So erklärt die stellvertretende Fraktionschefin Carina Konrad auf Anfrage: „Bewusstseinsberuhigende Scheinlösungen wie das Abschirmen von Werbung führen nicht zu mehr Bewegung und gesünderem Essen auf den Tellern unserer Kinder. Wir setzen auf Eigenverantwortung, Aufklärung und eine sinnvolle Ernährungsbildung.“
Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat im Bundeskabinett Ende Juni sein Veto gegen Özdemirs Referentenentwurf eingelegt. Sein „Leitungsvorbehalt“ bedeutet, dass das Gesetz noch einmal überarbeitet werden muss. Erst wenn alle Ressorts zugestimmt haben, kann der Entwurf zur Stellungnahme an Verbände weitergeleitet und im Bundestag beraten werden. Derzeit liegt das KLWG also auf Eis.
Die SPD hat sich in der Debatte bisher zurückgehalten, aber wohl weniger Probleme mit dem geplanten Werbeverbot. Die Bundestagsabgeordnete Rita Hagl-Kehl, zuständige Berichterstatterin ihrer Fraktion, hatte die Pläne Özdemirs Ende Februar ausdrücklich begrüßt.
Bewusstseinsberuhigende Scheinlösungen wie das Abschirmen von Werbung führen nicht zu mehr Bewegung und gesünderem Essen auf den Tellern unserer Kinder.

Mit welchen Argumenten kritisiert die Wirtschaft die Pläne?
Eine Studie von Wirtschaftsökonomen im Auftrag der Werbewirtschaft schätzt den Bruttowerbeverlust auf fast drei Milliarden Euro jährlich – „mit fatalen Auswirkungen auf die Lebensmittel- und Werbewirtschaft im Gesamten“. Betroffen wären neben den Herstellern der Produkte Werbeagenturen sowie Medien, Onlineportale, Youtuber und Influencer, die sich über Werbeerlöse finanzieren.
Werbewirtschaft und Lebensmittelindustrie sehen in dem Werbeverbot zudem einen verfassungswidrigen Eingriff in die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Berufsfreiheit. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten des Juristen Martin Burgi, das beide Verbände in Auftrag gegeben hatten. Sie bezeichnen das Vorgehen von Özdemir als „beispiellos“, da erstmals ein Werbeverbot für Produkte verhängt werden solle, „deren Herstellung und Vertrieb in keiner Weise verboten ist und die als solche auch nicht gesundheits- oder lebensgefährdend sind“.
Kritisch haben sich auch der Verlegerverband BDZV und der Verband der Informations- und Telekommunikationsbranche Bitkom geäußert. Nach Angaben des BDZV drohen den Zeitungen durch das Gesetz jährlich etwa 200 Millionen Euro Werbeeinnahmen verloren zu gehen. Für die Finanzierung der Presse seien Werbeeinnahmen aber weiterhin unverzichtbar. „Vor diesem Hintergrund sind Werbeverbote immer auch Einschränkungen der Pressefreiheit“, warnt der Verlegerverband.
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Was sagen die Befürworter des Werbeverbots?
Unterstützung erhält Özdemir von Verbraucherverbänden, Krankenkassen und Medizinern. Gerade appellierten 61 Organisationen in einem offenen Brief an die FDP-Führung, ihre Blockade zu beenden. Sie bedeute „eine klare Absage an den Gesundheitsschutz von Kindern und Jugendlichen“. Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzt*innen argumentiert: „Die Lebensmittelindustrie bewirbt fast ausschließlich ungesunde Nahrungsmittel, die viel Zucker, Fett oder Salz enthalten und die Entstehung von Übergewicht fördern.“ Freiwillige Selbstverpflichtungen, dies zu ändern, hätten sich als wirkungslos erwiesen. „Daher sind verpflichtende Regelungen nötig.“
Außerdem glaubt Özdemir die Mehrheit der Bundesbürger hinter sich. Sein Haus führt eine repräsentative Umfrage ins Feld, der zufolge 66 Prozent es für richtig hielten, „Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt rund um Schulen und Kindergärten sowie im Fernsehen und Internet zu Zeiten, an denen Kinder üblicherweise diese Medien nutzen, weitgehend einzuschränken“.
Wie geht es weiter?
Klar ist, dass Özdemir nachbessern muss, soll sein Gesetz eine Chance haben. Ein Sprecher des Ernährungsministeriums erklärte dazu auf Anfrage: „Das Gesetzesvorhaben wird derzeit im Rahmen der Ressortabstimmung beraten. Unser Ziel ist es, mit den Bundesländern und den einschlägigen Verbänden zeitnah ins Anhörungsverfahren zu kommen.“ Die nächste Gelegenheit, das Thema auf der politischen Ebene abzuräumen, bestünde bei der Kabinettsklausur Ende August in Meseberg. Doch dürften dort Kindergrundsicherung und Wachstumschancengesetz Priorität genießen – beides Themen, bei denen sich Grüne und FDP derzeit blockieren.